Magischer Luftstrom

Chefdirigent der „Sächsischen Bläserphilharmonie“ Peter Sommerer im Gespräch mit Eduard Kutrowatz über das Eröffnungskonzert in Raiding.

Eduard Kutrowatz: Herr Sommerer, Sie waren bis zum Jahr 2019 Generalmusikdirektor des Landestheaters Schleswig-Holstein und als Gastdirigent bei zahlreichen renommierten Orchestern weltweit eingeladen. Seit Jänner 2021 sind Sie Chefdirigent der „Sächsischen Bläserphilharmonie“ mit Sitz in Bad Lausick bei Leipzig. Wie unterscheidet sich die Arbeit mit einer Bläserphilharmonie im Vergleich zu einem Orchester in traditioneller klassischer Besetzung (Streicher und Bläser) und wie würden Sie die speziellen Herausforderungen definieren?

Peter Sommerer: Als ich im Januar 2020 als Einspringer zur Bläserphilharmonie gekommen bin, waren meine Vorstellungen nicht ganz klar, welche Art von Orchester mich da erwartet. Das Repertoire des anstehenden Neujahrskonzerts war zu 90% gleich mit dem eines „normalen“ Symphonieorchesters, das Partiturbild war aufgrund der besonderen Besetzung auf den ersten Blick doch anders. Was ich aber dann ab der ersten Probe erlebt habe hat die Frage, was ist anders, sofort verschwinden lassen, denn es ging ab dem ersten gespielten Takt darum Musik, zu machen. Und wenn ich ehrlich sein soll, ist es das, worum es mir als Dirigent geht. Gemeinsam mit den Musiker:innen das „Momentum“ zu erschaffen, das im Konzert einzigartig und unwiederbringlich ist. Genau das habe ich bei der Sächsischen Bläserphilharmonie vorgefunden und wie sich nach einiger Zeit herausstellte, man war zu der Zeit auf der Suche nach eine(r)m neue(n)m Chefdirigent:in, wir wollen diese Zusammenarbeit intensivieren. Nachdem ich selbst kein Blasinstrument spiele, komme ich nicht in Versuchung, spieltechnische Hinweise zu geben, sondern konzentriere mich in der Probenarbeit auf Klang, musikalische Interpretation und stilistische Arbeit.

Gibt es ausreichend „Originalliteratur“ für diese Besetzung bzw. welchen Stellenwert haben Bearbeitungen, Arrangements, Transkriptionen und wann ist ein Arrangeur ein „guter“ Bearbeiter? Wann eignet sich ein Werk besonders zum Bearbeiten für Bläser?

Nachdem wir kaum klassische Blasorchesterliteratur spielen, sind wir auf Arrangements angewiesen. Es gibt fast nichts, was es nicht gibt. Dennoch stoßen wir an Grenzen, wenn die Violinen im Original sehr hoch spielen, wie in der spätromantischen Literatur, darüber hinaus müssen wir, selbst wenn es schon Bearbeitungen gibt, diese an unsere auch im Symphonischen Blasorchesterkontext ungewöhnliche Besetzung (keine Saxophone) bearbeiten. Aber genau das macht diesen besonderen Klang aus.
Bei einem Arrangement ist immer die Entscheidung, ob man versucht, möglichst nahe am Original zu bleiben, oder ob man sich gewisse „Freiheiten“ nimmt. Das beginnt bei der Wahl der Tonart, wie gehe ich mit Tonrepetitionen um, etc.
Ein für uns guter Arrangeur hat das richtige Gespür, die Instrumentation so zu wählen, dass die Stärken des Orchesters, die ich mit Flexibilität, kraftvollem Sound ohne laut zu sein und einer besonderen, weichen Klangmischung beschreiben möchte, befördert.
Besonders gut eigenen sich natürlich Stücke, die im Original schon Bläser-Highlights aufweisen. Daher zählen Werke von Richard Wagner, wie „Morgenlied und Aufzug der Heere“ oder „Elsas Zug zum Münster“ zu den Filetstücken des Orchesterrepertoires.
Was wir gerade neu für Hänssler classic eingespielt haben ist „La Valse“ von Maurice Ravel. Die Instrumentierung ist so raffiniert, das Orchester beweglich und stark, dass, wie schon behauptet wurde, man gar nicht merken würde, es keine Streicher gibt.

Was sind die Schwerpunkte und Highlights Ihres Programms für das Liszt Festival Raiding? Musik von Richard Wagner spielte ja schon immer eine bedeutende Rolle im Repertoire des Ensembles, nun kommen Liszt und Berlioz dazu...

Wie eben schon erwähnt, gehört Richard Wagner ganz klar zu den Stücken, die sowohl beim Publikum als auch bei den Musiker:innen selbst großen Anklang finden. Die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 gehört schon lange zum Repertoire des Orchesters, weitere Kompositionen von Franz Liszt wie der „Rákóczy Marsch“ in der Konzertfassung und „Les Préludes“ sind extra neu geschriebene Arrangements. Es macht ungeheuer Spaß, den „Listzschen Kosmos“ hier zu entdecken und gerade bei „Les Préludes“ ist es eine besondere Herausforderung, die Sechzehntel der Streicher entsprechend zu verteilen, um die „Ansatz-Kondition“ eines ganzen Konzertabends ökonomisch zu dosieren, damit dem musikalischen Erlebnis nichts im Wege steht. Ich bin sehr stolz auf meine Musiker:innen, dass Arrangements aus unseren eigenen Reihen erstellt werden, am Ende des Prozesses sogar gemeinschaftlich und konstruktiv an den Details eines solchen Arrangements gefeilt werden.

Die Zusammenarbeit mit dem Liszt Festival Raiding ist länger geplant und soll in den nächsten Jahren noch intensiviert werden. Spielt es für Sie eine Rolle, ob ein Ort, wie in diesem Fall der Geburtsort und das Geburtshaus von Franz Liszt, durch diese historischen Gegebenheiten mit besonderer Energie, fast möchte man sagen, mit „Magie“ ausgestattet sind?

Es freut mich wirklich sehr, dass wir zu einer längerfristigen Verabredung gekommen sind, denn so haben wir die Möglichkeit, programmatisch einen Bogen zu spannen, dessen Entwicklungsprozess in der Planung sehr dynamisch und bereichernd ist. Auf jeden Fall sind Orte, wie zum Beispiel der Sarkophag Anton Bruckners unter der Orgel in St. Florian, oder das Grab Johann Sebastian Bachs in der Thomaskirche in Leipzig, Räume des konzentrierten Erinnerns. Mit ihren Werken und Wirkungsstätten haben die Komponisten Spuren hinterlassen, die neben Partituren in Archiven oder Gedenktafeln, sicher auch den Ort geprägt haben, genauso, wie sie selbst von diesen Orten geprägt wurden. Und das ist, meiner Meinung nach, die besondere Mischung, die einen „Genius loci“ ausmacht. Weniger im Sinne des römischen Schutzgeistes, sondern als Möglichkeit, dem nachzuspüren, wie es der Komponist vielleicht schon erlebt. Das Profil der Landschaft, die Mentalität der Leute… davon ist sicher noch einiges über und ich bin selbst sehr gespannt Raiding zu entdecken und zu erleben.

Die Sächsische Bläserphilharmonie wurde im Jahr 1950 als Rundfunk Blasorchester Leipzig gegründet und zählt international zu den herausragenden Ensembles in dieser Besetzung. Was waren die Höhepunkte in der Geschichte des Ensembles, wie rekrutieren sich die Mitglieder des Orchesters und wie sind die Pläne für die nähere Zukunft der Philharmonie? 

Die Geschichte des RBO Leipzig, wie es ursprünglich hieß, hat das, was man landläufig als wechselvolle Geschichte bezeichnet. Die musikalischen Höhepunkte von zahlreichen Radiosendungen, bis hin zu weltweiten Tourneen von Südamerika bis Australien, gehören zu den glanzvollen Kapiteln des Orchesters. Was ich aber als einen der größten Erfolge, musikalisch wie menschlich, bezeichnen würde, ist der Umstand, nachdem man nach der Wende dem Orchester mitgeteilt hat, dass es aus dem Rundfunk ausgegliedert und damit aufgelöst wird, es völlig klar war: morgen wird weitergeprobt. Die Kolleg:innen haben es geschafft, durchzuhalten und aus eigener Kraft eine neue Form der Institution zu gründen, die wir heute als „Sächsische Bläserphilharmonie“ kennen. Dieser Geist der Identifikation mit dem Orchester und dass „das Ganze“ immer über dem Interesse des Einzelnen steht, zählt für mich nur zu den großen Stärken des Orchesters, sondern gehört zur DNA des Orchesters, die man den nachkommenden Generationen vermittelt.
Vakante Stellen werden, wie bei allen professionellen Orchestern, international ausgeschrieben und nach erfolgreich absolviertem Probespiel besetzt. Wir bespielen nicht nur die Region um und in Leipzig, sondern freuen uns darauf, in postcoronarischen Zeiten unsere Reisetätigkeiten als Orchester und Sächsische Kulturbotschafter:innen, national wie international, wieder aufnehmen zu können. Neben den „Anrechtsreihen“ (Abo-Konzerte Anm.) bei denen wir von Schostakowitsch bis „Swinging Christmas“ Frank Sinatra spielen, werden unsere Formate für Kinder und Jugendliche (Babykonzert bis junge Erwachsene), sowie zeitgemäße modular-digitale Musikvermittlung ausgebaut. Als Lehrorchester für angehende Dirigent:innen kooperieren wir mit Musikhochschulen im gesamten deutschsprachigen/frankophonen Raum.

Was hat Sie an der Wahl des Berufes „Dirigent“ gereizt und warum gibt es immer noch vergleichsweise wenig Frauen in diesem Bereich? Sind Männer die besseren „Leiter“? 

Seit ich als Dreizehnjähriger erstmals öffentlich den „Auswahlchor der Unterstufe des Bundesgymnasium Steyr“ dirigiert habe, war es für mich klar, dass Dirigieren wohl das Richtige für mich ist. Das bedeutet nicht, dass alles geradlinig und planbar verlief, es aber immer wieder Dreh- und Angelpunkte gab, um mich auf die richtige Spur zu setzen. Das waren in erster Linie Menschen, wie meine musikalische Familie, die vieles ermöglicht und bereitet hat, Lehrer wir Prof. Herwig Reiter, der es mir ermöglich hat, meine ersten Orchesterkonzerte zu dirigieren, Walter Kobera und die „Neue Oper Wien“ mit meinen ersten Operndirigaten (mit einem gewissen Eduard Kutrowatz als Klaviersolist), oder nach dem Studium in Wien Michael Boder, bei dem ich den Umgang mit dem „großen Opernreprtoire“ gelernt und vor allem erfahren habe.
Nach Kapellmeisterjahren war es dann so weit, „endlich“ als Generalmusikdirektor berufen zu werden. Dabei musste ich feststellen, dass Dirigent ein Beruf und GMD ein Beruf ist, die von außen betrachtet dasselbe sind, letzteres jedoch noch neben der musikalischen Leitung, auch die (Mit-)Leitung eines sehr komplexen Theaterbetriebes mit sich bringt. Plötzlich ist man Personalchef, Politiker, Diplomat, Mediator, Dramaturg – und zusätzlich noch Dirigent. Zumindest nach meinem „Amtsverständnis“, als Chef nicht nur erster Gastdirigent zu sein. Das ist neben allen tollen künstlerischen Entscheidungen, die man sich ausdenken und treffen darf, mitunter auch mal mühsam. Das muss man wollen. Und ich wollte es und bin dankbar für diese Erfahrungen, von denen ich jetzt profitiere. Die Frage ob Männer bessere Leiter als Frauen sind, sollte 2022 keine Rolle mehr spielen. Nach meiner Erfahrung sind diejenigen gute Leiter:innen, die in der Lage sind, nicht mit sich selbst beschäftigt zu sein, sondern ausschließlich mit der Musik, dem Orchester als komplexes, dynamisches Menschen- und Arbeitsbiotop. Es gibt leider immer noch Kolleg:innen, die zwingen, im Sinne einer eindeutigen musikalischen Aussage, mit einem „Bezwingen“ des Orchesters, wer ist der/die Stärkere, verwechseln. 
Ich nehme die englische Bezeichnung für Dirigent „Conductor“ sehr wörtlich: con ducere – zusammenführen. Und dies mittels Streben nach Eindeutigkeit als Dirigent und Verbindlichkeit als Chef.

Ihre künstlerischen Pläne für die nächste Zeit und Ihre persönlichen Wünsche für die Zukunft? 

Gerade in bewegten Zeiten, die wir gerade erleben, ist Dankbarkeit und Demut als Künstler:innen, die wie ich sehr vielseitig tätig sein dürfen, das Gebot der Stunde. Es ist eine große Freude und Bereicherung mit den Musiker:innen, sowie mit dem Leitungsteam und allen Mitarbeiter:innen der Sächsischen Bläserphilharmonie arbeiten zu dürfen. Es gibt momentan mehr Ideen und Anfragen, als wir Orchesterdienste zu Verfügung haben. Neben dieser Tätigkeit freut es mich, als Gastdirigent in Konzert und Oper, nun auch wieder reisen zu können, da gibt es, wie bei vielen, Corona-bedingt einiges nachzuholen. Die Arbeit mit Jugendlichen, sei es bei der Jungen Philharmonie Brandenburg, oder den von mir mitbegründeten Symphonic Youngsters Flensburg, hat ebenso wieder begonnen, wie nun auch meine Unterrichtstätigkeit (Orchesterleitung) an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Kunst verhindert keine Kriege, schafft aber immer wieder eine Ebene, die Goethes „edlen Menschen“ dazu befähigt, für andere, der feine Unterschied zu sein. Erst im Dialog mit dem Publikum wird diese Kunst zur Kultur und entfaltet so seine dringend notwendige gesellschaftspolitische Relevanz. Das ist mein kulturelles Credo und ich freue mich sehr darauf, gemeinsam mit der Sächsischen Bläserphilharmonie und dem Publikum in Raiding Liszt zu erleben.